
Zusammenfassend:
- Die gleichzeitige Anforderung von maximaler Seitenführung (Schräglage) und maximaler Bremskraft überfordert physikalisch die Haftungsgrenze jedes Reifens, was ohne Kurven-ABS zum sofortigen Sturz führt.
- Kurven-ABS ist kein magisches Schutzschild, sondern ein präziser physikalischer Manager, der mithilfe von Schräglagensensoren (IMU) die Bremskraft exakt so dosiert, dass das „Haftungsbudget“ des Reifens nicht überschritten wird.
- Das System verhindert aktiv das gefürchtete Aufstellmoment des Motorrads, hält die Spur und maximiert die Verzögerung innerhalb der physikalischen Grenzen.
- Trotz der hochentwickelten Technik bleibt das System von der vorhandenen Haftung abhängig: Auf Rollsplitt, Öl oder nassem Laub kann auch das beste Kurven-ABS die Physik nicht überlisten.
Jeder sportliche Fahrer kennt die Situation: Eine schnelle Landstraßenkurve, perfekt angebremst, das Knie fast am Boden – und plötzlich taucht ein Hindernis auf. Ein Traktor, Wildwechsel oder ein unvorhergesehenes Bremsmanöver des Vordermanns. Der Instinkt schreit: Vollbremsung! Doch die Fahrphysik diktiert ein brutales Gesetz: Wer in tiefer Schräglage voll in die Eisen greift, verliert die Haftung am Vorderrad und stürzt unweigerlich. Diese Zwickmühle zwischen Selbsterhaltungstrieb und physikalischer Realität war jahrzehntelang die größte Gefahr für Motorradfahrer in Kurven.
Die landläufige Meinung war stets, dass man sich zwischen Bremsen und Lenken entscheiden muss. Moderne Assistenzsysteme wie die Traktionskontrolle (TC) oder verschiedene Fahrmodi haben die Sicherheit zwar erhöht, doch die Kernproblematik der Schräglagenbremsung blieb ungelöst. Doch was, wenn der Schlüssel nicht darin liegt, weniger zu bremsen, sondern darin, die Bremskraft intelligent zu verteilen? Genau hier setzt das Kurven-ABS an. Es ist mehr als nur ein Antiblockiersystem; es ist ein fahrdynamischer Copilot, der das begrenzte „Haftungsbudget“ eines Reifens in Millisekunden analysiert und verwaltet.
Dieser Artikel erklärt aus der Perspektive eines Fahrdynamik-Instruktors die präzise physikalische Funktionsweise des Kurven-ABS. Wir demontieren den Mythos der „magischen Rettung“ und ersetzen ihn durch ein klares Verständnis der ablaufenden Prozesse. Sie werden lernen, warum Sie ohne dieses System physikalisch gar nicht gleichzeitig lenken und voll bremsen können, wie Sie Vertrauen in die Technik aufbauen und wo die unumstößlichen Grenzen liegen, die selbst die beste Elektronik nicht überwinden kann. Das Ziel ist es, Ihnen nicht nur zu zeigen, *dass* es funktioniert, sondern *warum* es funktioniert – damit Sie im Notfall nicht nur hoffen, sondern wissen.
Inhaltsverzeichnis: Die Physik hinter dem Bremsen in Schräglage
- Warum können Sie ohne Kurven-ABS physikalisch nicht gleichzeitig voll bremsen und lenken?
- Wie üben Sie das Bremsen in Schräglage, um dem System im Notfall blind zu vertrauen?
- Kurven-ABS nachrüsten: Ist das technisch möglich oder müssen Sie ein neues Motorrad kaufen?
- Der Irrglaube über Kurven-ABS, der Sie bei Rollsplitt trotzdem in den Graben befördert
- Wann senkt das Vorhandensein von Kurven-ABS Ihre Vollkasko-Prämie bei der Versicherung?
- Warum bremst das Auto von selbst ein einzelnes Rad ab, wenn Sie zu schnell in die Kurve fahren?
- Warum drehen Sie sich beim ersten Drift-Versuch immer und wie fangen Sie das Auto ab?
- Wie stellen Sie Ihre Traktionskontrolle ein, um bei Regen auf Kopfsteinpflaster nicht wegzurutschen?
Warum können Sie ohne Kurven-ABS physikalisch nicht gleichzeitig voll bremsen und lenken?
Die Unmöglichkeit, in Schräglage voll zu bremsen, ist kein Versäumnis des Fahrers, sondern eine fundamentale physikalische Gesetzmäßigkeit. Die Statistik unterstreicht die Relevanz dieses Problems eindrücklich: Laut ADAC Unfallforschung passieren 36 Prozent aller Motorradunfälle in Kurvenbereichen. Der Grund dafür liegt in einem Konzept, das jeder Fahrdynamiker kennt: dem Kammschen Reibungskreis. Stellen Sie sich die gesamte Haftung, die ein Reifen aufbauen kann, als ein festes Budget vor. Dieses Budget kann für zwei Arten von Kräften ausgegeben werden: Längskräfte (Beschleunigen und Bremsen) und Seitenführungskräfte (Kurvenfahrt).
Fahren Sie geradeaus, können Sie 100 % Ihres Haftungsbudgets für eine Vollbremsung nutzen. Sobald Sie das Motorrad jedoch in Schräglage bringen, verbrauchen Sie einen erheblichen Teil dieses Budgets allein für die Seitenführung, um nicht aus der Kurve zu fliegen. In einer sportlich gefahrenen 45-Grad-Schräglage sind vielleicht schon 70 % des Budgets für die Seitenführung aufgebraucht. Es bleiben nur noch 30 % als Haftungsreserve für Brems- oder Beschleunigungsvorgänge übrig. Ein panischer Griff zur Bremse, der mehr als diese 30 % an Längskraft anfordert, überzieht das Budget sofort. Das Resultat: Das Vorderrad verliert die Haftung, rutscht weg, und der Sturz ist unausweichlich.

Die Visualisierung des Reifens verdeutlicht diese Kraftverteilung. Das Kurven-ABS agiert hier als intelligenter „Budgetverwalter“. Mithilfe einer Inertial Measurement Unit (IMU) misst es permanent die Schräglage, die Gierrate und die Beschleunigung des Motorrads. Wenn Sie in Schräglage den Bremshebel ziehen, berechnet das System in Echtzeit, wie viel Haftungsreserve noch verfügbar ist, und erlaubt nur exakt so viel Bremsdruck, wie der Reifen physikalisch übertragen kann, ohne die Haftung zu verlieren. Es verhindert die Überziehung des Haftungsbudgets und hält das Motorrad stabil.
Wie üben Sie das Bremsen in Schräglage, um dem System im Notfall blind zu vertrauen?
Das technische Verständnis für das Kurven-ABS ist die eine Sache, das muskuläre und mentale Vertrauen im Ernstfall die andere. Dieses Vertrauen kann nicht rein theoretisch aufgebaut werden; es muss erfahren werden. Der Schlüssel liegt in der progressiven und kontrollierten Praxis. Die beste Umgebung hierfür sind professionelle Fahrsicherheitstrainings, wie sie beispielsweise vom ADAC an Standorten wie dem Nürburgring oder in Linthe bei Berlin angeboten werden. Dort können Sie sich unter Anleitung von Instruktoren und oft mit speziellen Auslegermotorrädern schrittweise an den Grenzbereich herantasten.
Der Trainingsablauf ist methodisch: Sie beginnen mit Bremsungen aus geringer Schräglage (z.B. 20 Grad) bei moderater Geschwindigkeit und steigern sich langsam. Das Ziel ist es, bewusst zu spüren, wie das System eingreift. Sie werden feststellen, dass der Bremshebel pulsiert und das Motorrad nicht abrupt verzögert, sondern die Bremskraft sanft, aber bestimmt aufbaut. Ein entscheidender Effekt, den Sie dabei erleben werden, ist die Unterdrückung des Aufstellmoments. Ohne Kurven-ABS würde sich das Motorrad beim Bremsen in Schräglage sofort aufrichten und den Kurvenradius ungewollt vergrößern. Das Kurven-ABS wirkt diesem physikalischen Effekt aktiv entgegen.
Ein Test von Motorrad Online beschreibt diesen Effekt präzise und nachvollziehbar, was die Beobachtungen aus dem Training untermauert:
Bei voll gezogener Bremse stellt sich die Test-KTM kaum auf, da das MSC über den Gyro-Sensor erkennt, wie schnell sich das Bike aufstellen will
– Motorrad Online, MOTORRAD Test Kurven-ABS
Durch wiederholtes, kontrolliertes Auslösen des Systems in einer sicheren Umgebung programmieren Sie Ihr „Muskelgedächtnis“. Der panische Reflex, die Bremse loszulassen, wird durch das erlernte Vertrauen ersetzt, dass ein beherzter Griff zum Bremshebel die sicherste Option ist. Sie lernen, dass das System die Spur hält und die maximale physikalisch mögliche Verzögerung für Sie realisiert.
Kurven-ABS nachrüsten: Ist das technisch möglich oder müssen Sie ein neues Motorrad kaufen?
Die direkte und unmissverständliche Antwort lautet: Nein, eine technische und legale Nachrüstung von Kurven-ABS an einem Motorrad, das nicht dafür vorgesehen ist, ist nicht möglich. Der Grund dafür ist die tiefgreifende Integration des Systems in die gesamte Fahrzeugelektronik. Ein Kurven-ABS ist weit mehr als nur ein modifizierter ABS-Block. Es ist ein vernetztes System aus der zentralen ABS-Hydraulikeinheit, den Raddrehzahlsensoren und vor allem der zentralen IMU (Inertial Measurement Unit), die die Schräglage misst. All diese Komponenten kommunizieren über den CAN-Bus mit dem Motorsteuergerät (ECU).
Ein nachträglicher Einbau würde einen derart massiven Eingriff in die zertifizierte Elektronik und Software des Motorrads bedeuten, dass die Allgemeine Betriebserlaubnis (ABE) sofort erlöschen würde. Eine TÜV-Zulassung für einen solchen Umbau ist ausgeschlossen, weshalb laut ADAC die Wahrscheinlichkeit einer legalen Nachrüstung bei null Prozent liegt. Die einzige realistische Option, in den Genuss dieser Sicherheitstechnologie zu kommen, ist der Kauf eines Motorrads, das serienmäßig damit ausgestattet ist. Glücklicherweise ist die Technologie seit ihrer Einführung (z.B. 2013 bei KTM) in vielen Modellen verfügbar und mittlerweile auch auf dem Gebrauchtmarkt erschwinglich.
Für Fahrer, die über ein Upgrade nachdenken, bietet der Gebrauchtmarkt zahlreiche interessante Optionen. Die folgende Tabelle, basierend auf einer Marktanalyse von Publikationen wie Motorrad Online, zeigt einige frühe Modelle, die bereits mit serienmäßigem Kurven-ABS ausgestattet waren und heute zu attraktiven Preisen zu finden sind.
| Modell | Baujahr ab | Preisbereich gebraucht | System |
|---|---|---|---|
| KTM 1190 Adventure | 2013 | 8.000-12.000€ | Bosch MSC |
| BMW S 1000 RR | 2015 | 10.000-15.000€ | BMW ABS Pro |
| Yamaha YZF-R1 | 2015 | 12.000-18.000€ | Unified Brake System |
| Ducati Multistrada | 2015 | 11.000-16.000€ | Bosch MSC |
Die Investition in ein neueres Modell ist somit keine Frage des Luxus, sondern eine bewusste Entscheidung für einen Quantensprung in der aktiven Fahrsicherheit.
Der Irrglaube über Kurven-ABS, der Sie bei Rollsplitt trotzdem in den Graben befördert
Das Kurven-ABS ist eine der brillantesten Erfindungen der modernen Motorradtechnik, aber es ist keine Allmachtsfantasie und kein Freifahrtschein, die Gesetze der Physik zu ignorieren. Der größte und gefährlichste Irrglaube ist die Annahme, das System könne Haftung *erzeugen*, wo keine ist. Das ist fundamental falsch. Ein Kurven-ABS kann nur die vorhandene Haftung optimal verwalten und verteilen. Wenn die Verbindung zwischen Reifen und Straße durch externe Faktoren gestört wird, ist auch das beste System machtlos.
Stellen Sie sich eine mit Rollsplitt, feuchtem Laub, einer Ölspur oder landwirtschaftlicher Verschmutzung bedeckte Kurve vor. In diesen Szenarien tendiert das Haftungsbudget des Reifens gegen null. Das Kurven-ABS wird zwar versuchen, den Rad-Lock zu verhindern, aber da keine nennenswerte Bremskraft auf die Straße übertragen werden kann, wird die Verzögerung minimal sein. Das Motorrad wird nahezu ungebremst weiterrutschen. Die Elektronik kann nicht zaubern; sie kann nur mit den physikalischen Gegebenheiten arbeiten. Vorausschauendes Fahren, die richtige Blickführung und eine an die Bedingungen angepasste Geschwindigkeit bleiben die wichtigsten Lebensversicherungen des Motorradfahrers.
Praxistests und Unfallanalysen zeigen immer wieder typische deutsche Straßengefahren, die selbst für modernste Systeme kritisch sind. Dazu gehören heimtückische Bitumenflicken auf kurvigen Schwarzwaldstraßen, die bei Nässe spiegelglatt werden, tiefe Spurrillen auf Autobahnabschnitten bei starkem Regen oder verschmutzte Landstraßen in landwirtschaftlich geprägten Regionen wie Bayern und Niedersachsen. In all diesen Fällen ist die primäre Sicherheitsstrategie die Vermeidung, nicht die elektronische Korrektur.
Wann senkt das Vorhandensein von Kurven-ABS Ihre Vollkasko-Prämie bei der Versicherung?
Neben dem offensichtlichen Sicherheitsgewinn hat das Vorhandensein von Kurven-ABS auch einen handfesten finanziellen Vorteil, der sich jedoch oft nicht sofort, sondern mittelfristig bemerkbar macht. Versicherungen kalkulieren ihre Prämien unter anderem auf Basis von Typklassen, die vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) festgelegt werden. Diese Typklassen spiegeln das Schadenrisiko eines bestimmten Fahrzeugmodells wider. Modelle, die statistisch seltener in Unfälle verwickelt sind oder bei denen die Unfallfolgen geringer ausfallen, werden in günstigere Typklassen eingestuft.
Da Kurven-ABS nachweislich Stürze verhindert und somit die Unfallhäufigkeit und -schwere reduziert, führt dies zu einer besseren Schadenbilanz. Langfristig führt diese positive Entwicklung dazu, dass Motorräder mit fortschrittlichen Sicherheitssystemen in günstigere Typklassen eingestuft werden. Studien und Analysen, unter anderem vom ADAC, deuten darauf hin, dass Motorräder mit Kurven-ABS langfristig eine um 10-15% bessere Typklasseneinstufung beim GDV erreichen können. Dieser Vorteil wird nicht immer direkt beim Abschluss einer neuen Versicherung für ein neues Modell sichtbar, sondern entwickelt sich über Jahre.
Dennoch sollten Sie beim Abschluss einer Versicherung proaktiv auf die vorhandene Sicherheitsausstattung hinweisen. Einige Versicherer bieten bereits heute direkte Rabatte für Modelle mit Kurven-ABS und Traktionskontrolle an. Es lohnt sich also, dies explizit im Antrag zu erwähnen und nachzufragen. Eine klare Kommunikation kann zu einer sofortigen Prämienersparnis führen.
Ihre Checkliste: Anfrage bei der Versicherung
- Betreffzeile formulieren: Nutzen Sie eine klare Betreffzeile wie „Anfrage Motorradversicherung für [Ihr Modell] mit erweiterter Sicherheitsausstattung“.
- Fahrzeugdaten angeben: Nennen Sie exakt Ihr Motorradmodell, Baujahr und die Fahrgestellnummer.
- Sicherheitssysteme auflisten: Führen Sie die relevanten Systeme explizit auf, z.B. „Kurven-ABS (Herstellerbezeichnung wie Bosch MSC oder BMW ABS Pro)“ und „Schräglagenabhängige Traktionskontrolle (DTC)“.
- Um Berücksichtigung bitten: Fügen Sie einen Satz hinzu wie: „Ich bitte Sie, diese modernen, unfallpräventiven Sicherheitssysteme bei der Kalkulation der Vollkasko-Prämie positiv zu berücksichtigen.“
- Vergleichsangebote einholen: Senden Sie die Anfrage an mehrere Versicherer, um die Angebote vergleichen zu können und den Anbieter zu finden, der die Sicherheitsausstattung am besten honoriert.
Warum bremst das Auto von selbst ein einzelnes Rad ab, wenn Sie zu schnell in die Kurve fahren?
Der scheinbar magische Eingriff des Kurven-ABS am Motorrad hat eine direkte und technologisch eng verwandte Entsprechung im Automobilbereich: das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP), oft in Kombination mit einer Funktion namens „Torque Vectoring by Brake“. Wenn ein sportlicher Fahrer mit einem Auto zu schnell in eine Kurve fährt, neigt das Fahrzeug zum Untersteuern – es schiebt über die Vorderräder zum äußeren Kurvenrand. Das ESP erkennt diese Instabilität durch den Vergleich von Lenkwinkel (Fahrerwunsch) und Gierrate (tatsächliche Drehung des Fahrzeugs).
Um das Fahrzeug zu stabilisieren, greift das System nicht einfach auf alle Bremsen zu. Stattdessen leitet es einen gezielten, für den Fahrer kaum spürbaren Bremsimpuls an ein einziges Rad ein: das kurveninnere Hinterrad. Dieser Bremseneingriff erzeugt ein Giermoment, das das Fahrzeug wieder in die gewünschte Kurvenbahn „hineindreht“. Physikalisch gesehen nutzt das System die Bremskraft, um die Fahrzeugdynamik aktiv zu korrigieren, genau wie das Kurven-ABS am Motorrad die Bremskraft nutzt, um das Aufstellmoment zu verhindern und die Haftung zu managen.
In beiden Fällen – Auto und Motorrad – ist das Grundprinzip identisch. Eine zentrale Sensoreinheit (IMU/Gierratensensor) erfasst eine drohende Instabilität. Ein intelligentes Steuergerät berechnet daraufhin in Millisekunden eine korrigierende Maßnahme und setzt diese über einen gezielten, modulierten Eingriff in das Bremssystem um. Es ist die Umwandlung der Bremse von einem reinen Verzögerungswerkzeug zu einem hochpräzisen Instrument der Fahrdynamik-Regelung.
Warum drehen Sie sich beim ersten Drift-Versuch immer und wie fangen Sie das Auto ab?
Auf den ersten Blick scheinen ein Drift im Auto und eine Panikbremsung mit Kurven-ABS auf dem Motorrad nichts gemeinsam zu haben. Tatsächlich repräsentieren sie jedoch zwei Seiten derselben Medaille: die gezielte Verwaltung von Instabilität. Ein Drift ist ein gewollter, kontrollierter Kontrollverlust am Heck, während der Eingriff des Kurven-ABS die Reaktion auf einen ungewollten, drohenden Kontrollverlust am Vorderrad ist. Beim ersten Drift-Versuch dreht man sich fast immer, weil die Koordination von Gas, Lenkung und Gegenlenken extrem präzise und oft kontraintuitiv sein muss, um das ausbrechende Heck „einzufangen“ und in einem stabilen Driftwinkel zu halten.
Moderne Supersport-Motorräder wie eine BMW S 1000 RR oder eine Yamaha YZF-R1 vereinen diese beiden Welten auf faszinierende Weise. Im „Track“- oder „Race“-Modus erlauben die Systeme oft einen gewissen, kontrollierten Schlupf am Hinterrad (Slide Control) und reduzieren die Eingriffe des Kurven-ABS auf ein Minimum, um dem erfahrenen Fahrer maximale Kontrolle für die Rennstrecke zu geben. Hier wird Instabilität gezielt zugelassen, um Rundenzeiten zu verbessern.
Schaltet derselbe Fahrer jedoch in den „Rain“-Modus, ändert sich die Philosophie des Systems komplett. Die Traktionskontrolle wird auf maximale Empfindlichkeit gestellt, um jeden Schlupf im Keim zu ersticken, und das Kurven-ABS arbeitet mit seiner vollen, sicherheitsorientierten Regelcharakteristik. Das Ziel ist nun nicht mehr Performance, sondern die präventive Vermeidung jeglicher Instabilität. Der Fahrer wechselt also per Knopfdruck zwischen einem System, das kontrollierten Kontrollverlust managt (Drift), und einem, das ihn unter allen Umständen verhindert (Kurven-ABS im Sicherheitsmodus).
Das Wichtigste in Kürze
- Der Kammsche Reibungskreis ist kein theoretisches Konstrukt, sondern das harte, physikalische „Haftungsbudget“ Ihres Reifens. Schräglage und Bremsen sind konkurrierende Ausgaben.
- Kurven-ABS ist kein passiver Schutzschild, sondern ein aktiver Manager. Es misst die Schräglage und dosiert die Bremskraft so, dass das Haftungsbudget niemals überzogen wird.
- Die Physik ist absolut: Wo kein Grip ist (Öl, Splitt, Laub), kann auch die beste Elektronik keine Haftung herbeizaubern. Vorausschauendes Fahren bleibt die oberste Prämisse.
Wie stellen Sie Ihre Traktionskontrolle ein, um bei Regen auf Kopfsteinpflaster nicht wegzurutschen?
Die Traktionskontrolle (TC) und das Kurven-ABS sind technologische Geschwister. Sie nutzen dieselbe IMU-Sensorik und arbeiten oft Hand in Hand, besonders unter widrigen Bedingungen. Nirgendwo wird dieses Zusammenspiel wichtiger als auf nassem Kopfsteinpflaster, einer der heimtückischsten Oberflächen für Motorradfahrer. Statistisch gesehen ist der Anteil an Fahrunfällen in Kurven ist bei nassen Bedingungen doppelt so hoch, und auf glattem Pflaster potenziert sich dieses Risiko. Kritische Passagen finden sich in vielen deutschen Altstädten, etwa im Schnoorviertel in Bremen, in der Altstadt von Quedlinburg oder in Teilen von Berlin-Prenzlauer Berg.
Um hier ein Wegrutschen zu verhindern, ist die richtige Einstellung der Elektronik entscheidend. Die erste und wichtigste Maßnahme ist die Aktivierung des „Rain-Mode“. Dieser Fahrmodus orchestriert das gesamte System für maximale Sicherheit. Er macht nicht nur die Gasannahme sanfter, sondern stellt auch die Traktionskontrolle und das Kurven-ABS auf ihre sensibelste Stufe ein. Die Traktionskontrolle wird so konfiguriert, dass sie bereits den geringsten Ansatz von Schlupf am Hinterrad beim Beschleunigen aus der Kurve sofort und rigoros unterbindet.
Sollte Ihr Motorrad eine separate Einstellung der TC erlauben, wählen Sie die höchste Regelstufe (z.B. Stufe 8 von 8). Sie werden spüren, dass sich das Motorrad träger und weniger agil anfühlt. Jeder Gasstoß wird vom System sanft eingebremst. Akzeptieren Sie dieses Gefühl – es ist nicht Leistung, die Ihnen genommen wird, sondern Instabilität, vor der Sie bewahrt werden. Dieses defensive Setup stellt sicher, dass das Haftungsbudget des Reifens beim Herausbeschleunigen niemals überfordert wird, während das Kurven-ABS dasselbe Budget beim Bremsen schützt. Es ist ein lückenloses Sicherheitsnetz für Bedingungen mit minimalem Grip.
Der nächste Schritt besteht darin, dieses technische Verständnis bei einem professionellen Fahrsicherheitstraining in echtes Muskelgedächtnis zu verwandeln. Nur so wird aus Wissen Vertrauen und aus Vertrauen die richtige Reaktion im entscheidenden Moment.
Häufige Fragen zu den Grenzen des Kurven-ABS
Kann Kurven-ABS die Haftung auf der Straße erhöhen?
Nein. Das System kann nur die vorhandene Haftung optimal nutzen. Bei Rollsplitt, Öl oder nassem Laub ist die Haftung physikalisch begrenzt und kann auch von der Elektronik nicht erhöht werden.
Schützt Kurven-ABS vor allen Stürzen in Kurven?
Nein. Bei extremen Bedingungen wie tiefen Spurrillen, nassen Bitumenstreifen oder glattem Kopfsteinpflaster stößt auch die beste Elektronik an ihre physikalischen Grenzen. Es bleibt ein Notfallsystem.
Ersetzt Kurven-ABS vorausschauendes Fahren?
Niemals. Vorausschauendes Fahren und die ständige Vorsicht gemäß § 1 der deutschen Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) bleiben die wichtigste Grundlage für die Sicherheit. Das Kurven-ABS ist eine letzte Rettungsinstanz, keine Lizenz für Unachtsamkeit.